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Ausgangs- und Endpunkt jeder normativen Analyse muüssen ein reflektiertes und offen gelegtes Menschenbild und Gesellschaftsverständnis sein: Will man die Jurisprudenz nicht zum Spielball beliebiger Interessen reduzieren, muss sie vor dem Hintergrund einer Vorstellung vom Menschen und seiner Stellung im relevanten sozialen Gefüge gelebt werden. Nur auf diese Weise wird vermieden, dass die Wertungen, die in jede rechtliche Beurteilung unvermeidlich einfließen, in Beliebigkeit abgleiten.
Ich selbst gehe davon aus, dass der Mensch als zoon politikon einerseits zur Individualität berufen ist, dass er aber andererseits seiner Individualität als Mensch nur gerecht werden kann, wenn sie in soziale Bezüge eingebettet gelebt wird. Die Findung einer Balance von Individualbezügen und Gruppenorientierung vor dem Hintergrund der jeweiligen ökonomischen Realität ist für mich die eigentliche Herausforderung der Humanität.
Unter diesem Blickwinkel halte ich die undifferenzierte Überbetonung sowohl von Individualität als auch von Sozialität in rechtlicher wie politischer Diskussion für inadäquat: Entscheidend für mich ist, die Spannung zwischen der Eigenverantwortung und Solidarität aufrecht zu halten und damit gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu vermeiden. Diese Spannung ist zum einen als Herausforderung zu sehen, die letztgültig nicht bewältigt werden kann: Ein Zustand totaler Eigenverantwortung bei gleichzeitig totaler solidarischer Absicherung ist uns erst für das Paradies versprochen. Die Spannung ist zum anderen aber auch notwendig, um die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben: Daher müssen auch die in den Rechtsregeln geronnenen Niveaus von Eigenverantwortung bzw von Solidarität verändert werden, wenn Veränderungen der Realität eine Neubestimmung von Eigenverantwortung und Solidarität erfordern.
Diese grundsätzliche Offenheit des Systems gegenüber der Gewinnung immer neuer Balancen stellt vor allem komplexe Sozialsysteme in demokratischen Staaten vor besondere Herausforderungen: Wenn Veränderung vor Populismus kapitulieren muss, kann a la longue die Humanität der Gesellschaft gefährdet sein, weil der Mensch sowohl in Eigenverantwortung leben können als auch auf Solidarität vertrauen können muss. Beides ist aus meiner Sicht in einer Demokratie nur möglich, wenn eine der jeweiligen Situation adäquate Balance zwischen diesen Polen gefunden wird und die systemimmanenten Defizite gegenüber - immer denkmöglicher - noch größerer Eigenverantwortung und noch größerer Solidarität als Ergebnis eines demokratischen Kompromisses akzeptiert werden.
© Dr. Wolfgang Mazal 2000